Warum ein Viertel aller Messen verschwinden wird und: Der große Fehler bei digitalen oder hybriden Veranstaltungen war es anzunehmen, dass das Erlebnis der Messe digital substituiert werden muss. Peter F. Schmids radikale Sicht auf die Zukunft von Messen im smartville.digital-Interview.
by Peter F. Schmid, CEO Visable* | 24. Juni 2022
In Kürze
«Kein Unternehmen muss heute mehr schwere Maschinen
um den Globus transportieren, um sie für drei Tage
auf der Leitmesse auszustellen.»
«Mit Blick auf die großen Industrieveranstaltungen
glaube ich, dass der Schritt ins Digitale unausweichlich ist.»
«Bei den verbrauchernahen Veranstaltungen spielen
andere Faktoren eine Rolle. Hier sind Haptik
und das Gefühl für das Produkt weiter zentrale Faktoren.»
«Ich glaube nach wie vor, dass die Pandemie
eine Entwicklung beschleunigt hat, die schon vor der Krise begann.»
Peter F. Schmid, der Customer Journey im B2B-Kaufprozess verlagert sich immer mehr online, gerade für die Millennial-Generation. Welche Daseinsberechtigung haben Messen noch?
Ich bin davon überzeugt, dass die Customer Journey heute fast ausnahmslos im Web beginnt. Insbesondere in Krisenzeiten müssen Bedarfe schnell und flexibel gedeckt werden – da wartet kein Einkäufer auf eine Messe, um sich am Stand zu informieren. Die Pandemie hat das eindrucksvoll verdeutlicht und diese Verlagerung ins Internet noch beschleunigt. Auf unseren Plattformen wlw und EUROPAGES verzeichneten wir zu der Zeit teilweise ein Traffic-Wachstum von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das zeigt: Es geht auch ohne Messen.
Ich vertrete zudem die Ansicht, dass die reine Produktschau am Messestand in Zeiten der Digitalisierung weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll ist. Kein Unternehmen muss heute mehr schwere Maschinen um den Globus transportieren, um sie für drei Tage auf der Leitmesse auszustellen. Die nachwachsenden, noch digitalaffineren Generationen Y und Z werden diese Entwicklung abermals beschleunigen – denn hier finden sich die Entscheider von morgen.
Bild: Hannover Messe digital.
Bei der Daseinsberechtigung von Messen im Marketingmix müssen wir wohl nach Branchen unterscheiden. Wie beurteilen Sie die Zukunft der großen industriellen Leitmessen?
Mit Blick auf die großen Industrieveranstaltungen wie die Hannover Messe oder Automatica glaube ich, dass der Schritt ins Digitale unausweichlich ist.
Für die dort ausgestellten Investitionsgüter ist das Erleben und Empfinden vor Ort eher zweitrangig, um eine Kaufentscheidung zu treffen. Hier zählen Daten und Fakten – und diese finden Einkäufer heute in enormer Detailtiefe im Internet. Wer es dennoch anschaulicher braucht, kann dank neuer Technologien wie Augmented Reality z. B. die Verpackungsmaschine auch direkt maßstabsgetreu in die Produktionshalle projizieren.
Die Technik kann das bereits heute leisten. Es ist der Mensch, der an dem Bestehenden festhält. Deshalb wird diese Entwicklung ein schleichender Prozess sein und Messen für Investitionsgüter werden nicht von heute auf morgen verschwinden. Aber die Relevanz wird in den nächsten fünf, zehn oder auch 15 Jahren deutlich abnehmen. Davon bin ich überzeugt.
Bei den eher verbrauchernahen Veranstaltungen spielen sicher andere Faktoren eine Rolle. Hier sind Haptik und das Gefühl für das Produkt weiter zentrale Faktoren. Der Endkonsument geht letztlich noch emotionaler an einen Kauf heran und will sich mit dem Produkt ganz anders auseinandersetzen.
Unabhängig davon, ob wir aber nun über B2B oder B2C reden, glaube ich jedoch, dass der Wunsch nach einem Austausch weiter bestehen wird. Kongresse wird es auch in Zukunft geben. Aber es würde mich schwer wundern, wenn die reine Produktschau flächendeckend zu alter Stärke zurückfinden würde.
Während Covid kam der Mythos der «digitalen» respektive «hybriden» Messe auf. Was hat da nicht funktioniert?
Der große Fehler bei digitalen oder hybriden Veranstaltungen war es anzunehmen, dass das Erlebnis der Messe digital substituiert werden muss. Natürlich ersetzt das Event am Bildschirm nicht das soziale Miteinander, das auch auf einer Industriemesse mal ein gemeinsames Mittagessen oder ein Bier am Stand umfasst. Dafür wird auch in Zukunft auf den bereits erwähnten Kongressen und Summits Gelegenheit sein.
Die funktionale Dimension der Messe lässt sich durch Marktplätze und Plattformen jedoch heute schon sehr gut in den digitalen Raum überführen: Für die Anbahnung von Geschäften, das Einholen von Daten und Fakten zu Produkten, den Informationsaustausch zwischen Einkäufern und Anbietern stellen sie sogar eine weit zeit- und kosteneffizientere Alternative zum Messebesuch dar. Das ist natürlich nur durch den Einsatz neuester Technologien wie Künstlicher Intelligenz möglich, die wir sowohl in unserer Plattformsuche als auch in unserem Sourcing Service connect einsetzen.
Sie haben im Jahr 2020 prognostiziert, dass nach Covid ein Viertel oder sogar ein Drittel aller Messen ver-schwinden werden. Wie beurteilen Sie die Situation heute?
Ich glaube nach wie vor, dass die Pandemie eine Entwicklung beschleunigt hat, die schon vor der Krise begann. Die Besucher- und Ausstellerzahlen waren schon vor 2020 rückläufig, etablierte Leitmessen wie die CeBIT wurden eingestellt.
Auch im dritten Pandemiejahr wurden viele Veranstaltungen abgesagt, auch wenn sich die Situation allmählich entspannt. Aber: Die wiederkehrenden Leitmessen berichten teilweise deutlich sinkende Zahlen: Die Hannover Messe gibt für 2022 beispielsweise 75.000 Besucher und 2.500 Aussteller an. 2019 waren das noch 211.000 Besucher, die auf 6.200 Aussteller trafen. Interessanter Weise war selbst die rein digitale Hannover Messe 2021 mit 90.000 Teilnehmern besser «besucht». Da zeigt sich durchaus eine klare Tendenz.
Take Outs
90 Jahre Visable: Buch zur «Geschichte einer Transformation»
*Peter F. Schmid ist CEO von Visable mit Hamburg, Berlin, Münster, Paris und Baar. Die Geschichte des Unternehmens reicht bis ins Jahr 1932 zurück. Damals wurde an der Leipziger Buchmesse erstmals das Lieferantenverzeichnis «Wer liefert was» als Buchausgabe herausgegeben.
Um Platz zu sparen und die Suche in der bislang mehrbändigen Buchausgabe von «Wer liefert was» zu vereinfachen, wurde das Lieferantenverzeichnis 1986 erstmalig auf CD-ROM aufgelegt.
2016 übernahm «Wer liefert was» das Unternehmen EUROPAGES. Die Plattform umfasste damals 15 Sprachen und 28 überwiegend europäische Länder sowie Marokko, Hongkong und China.
Die pan-europäische Tech-Company umfasst 480 Mitarbeitende aus 35 Nationen.
Visable unterstützt industriell tätige KMUs, deren Produkte und Dienstleistungen für Einkäufer international zugänglich zu machen. Als speziell auf Geschäftskunden zugeschnittene Verbindung aus eigenen B2B-Plattformen und Online-Marketing-Services wie zum Beispiel Google Ads und Retargeting bietet das Unternehmen ein breit gefächertes digitales Portfolio zur Reichweiten-Steigerung im Internet.
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