Die andere Sicht auf Messen: smartville.digital-Interview mit Holger Rust, Autor der Buchneuerscheinung «Messewirtschaft und Innovationskultur. Herausforderungen für eine repräsentative Branche und ihre Kundschaft».
von Holger Rust* || 8. Februar 2024
Holger Rust in Kürze
«Mich beschäftigt der lebendige Diskurs der Messewirtschaft.
«Für die Funktion als Arbeitgeber müsste mehr in der Breite getan werden, auch im Bereich künftiger Führungskräfte.
«Die totale Virtualität von Messen wurde tatsächlich in ersten Formaten von Metaversen umgesetzt.
«Das World Wide Web ist – so könnte man sagen – eine der größten Leitmessen der Welt.
«Aber es wird sie nie geben, diese «Normalität», und es hat sie nie gegeben.
«Messen sind Dokumentationen angewandter Zukunftsforschung und damit existenzielle Teile der Wissensgesellschaft.
«Ich sehe bei Messen eine zu eng gezogene Grenze zwischen B2B und B2C.
«Das Endprodukt «Messe» ist immer Teil des Alltags, eines Alltags, in dem sowohl die Segnungen der Innovationen als auch ihre Folgekosten zu tragen sind.
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Holger Rust, was beschäftigt Dich zurzeit zur Messewirtschaft am meisten und lässt Dich nicht schlafen?
Der einzige Grund für durchwachte Nächte wäre die Beobachtung, dass die unglaublich vielfältigen Stellungnahmen, Interviews, Erfahrungsberichte, Vorschläge, Studien und Problemlösungen von ungezählten Personen aus der Messewirtschaft und ihrer Kundschaft nicht systematisch als Wissensquelle genutzt werden.
Deshalb beschäftigt mich der – und das ist hier kein modisches Schlagwort – lebendige Diskurs der Branche in dem man das verfügbare Wissen einer im besten Sinne repräsentativen Auswahl von Akteuren, die wissen worüber sie reden, einmal sammelt, auswertet und in es in eine Systematik bringt.
Ich habe genau das in meiner Arbeit zu den Messen realisiert, indem ich sozusagen eine qualitative Big Data-Analyse unternommen habe. Erste Ergebnisse standen ja vor anderthalb Jahren für die Branche zur Verfügung. Die sich daraus weiterentwickelnde Diskussion hat dann gezeigt, dass das alles für die Position der Messen in der Gesamtwirtschaft und der Gesellschaft hoch interessant ist.
Zu welchem Fazit bist Du gekommen: Wie innovativ sind Messeveranstalter? Wie zukunftsfähig? Wie attraktiv ist die Messewirtschaft als Arbeitgeber?
Das sind drei Fragen auf einmal. Zur ersten: Innovativ sind Messen von ihrer Programmatik her auf doppelte Weise: Sie repräsentieren die Innovativität einer Volkswirtschaft und tun dies mit innovativen Mitteln ihres eigenen Präsentationsmanagements. Und das ist so vielfältig wie die Branche selbst.
Messen sind also, zweiter Teil der Frage, unersetzliche Vermittlungsinstanzen für Zukunftsvorstellungen und Innovationen durch Unternehmen. Damit eröffnen sie Möglichkeitsräume und inszenieren Zukunftsträume, vor allem natürlich wirtschaftlich, aber auch kulturell, gesellschaftlich und nicht zuletzt auch politisch, wie – nur zum Beispiel – an der großen Beachtung der australischen Teilhabe an der Industriemesse Shanghai 2023 abzulesen war. Es zeigt sich in neuerlichen Auswertungen auch, dass viele der Probleme, die uns heute beschäftigen, schon vor Jahren Thema waren.
Zur Frage der Funktion als Arbeitgeber: Relativ wenig Studierende haben weiterhin Messen auf dem Schirm. Das hat auch damit zu tun, dass zu sehr auf messespezifische Managementaufgaben abgehoben wird. Da müsste mehr in der Breite getan werden, um alle Potenziale, gleich welcher Disziplinen und Ausbildungsgänge auszuschöpfen. Wichtig ist: Es geht dabei nicht nur um Fachkräfte, sondern auch um künftiges Führungspersonal.
Welche Rolle spielt Technologie oder die berühmte «digitale Transformation» für die Messe der Zukunft?
«Digitalisierung» ist die in den ausgewerteten Stellungnahmen – und das sind immerhin Aussagen von mehr als 450 sachverständigen Personen der unterschiedlichsten Bereiche – mit Abstand am häufigsten diskutierte Transformation. Dabei wird der Begriff allerdings nur unzureichend definiert, und die Beschäftigung damit ist eher anekdotisch als systematisch. Im Detail geht es vor allem um technische Strukturen und Funktionen sowie um Datafizierung und Virtualisierung. Dabei konzentriert sich die konzeptionelle Diskussion weitgehend auf die Messeformate: analoge, virtuelle und hybride.
Die Notwendigkeit einer Reaktion wird aber deutlich formuliert. Vor allem im letzten Jahr, als die sowohl konstruktiven als auch destruktiven Einflüsse Künstlicher Intelligenz deutlicher wurden und totale Virtualität von Messen tatsächlich in ersten Formaten von Metaversen umgesetzt wurden.
Was ich zudem vorschlage, die Haltung zu den Social Media zu überdenken. Leider wird das Internet vorwiegend als Sales Funnel und nicht als Quelle von Inspirationen genutzt. Dabei ist das World Wide Web – so könnte man sagen – eine der größten Leitmessen der Welt, und zwar inszeniert durch die milliardenfache Kommunikation der User. Das Netz avanciert zum Showroom – und dies nicht nur für ein Produkt, sondern für das Ensemble der Alltagskultur. Die Impulse umzusetzen in Produkte, Dienstleistungen und Präsentationsformate, ist mindestens ebenso wichtig wie Influencing oder sonstige Interventionen, wenn nicht ertragreicher.
Die deutsche Messewirtschaft will bis im Jahr 2040 klimaneutral sein. Wie beurteilst Du diesen Fahrplan? Ist das überhaupt möglich? Welche Ernsthaftigkeit zum Thema siehst Du?
Ich sehe nicht nur Ernsthaftigkeit, sondern wirklich auch innovative Impulse – weil die Messegesellschaften kontextuelle Lösungen entwickeln – das heißt: gleichzeitig bauliche, gartenarchitektonische, energetische, ästhetische und funktionale Konzepte in die Verwirklichung von Zielen der Nachhaltigkeit einbeziehen. Damit zeigen sie neue Möglichkeiten für Mobilitäts-, Gebäude- oder sogar Stadtplanungen auf.
Erste Ansätze zeigen sich auch, wenngleich noch verhalten, was den Energieverbrauch digitaler Formate angeht. Und der ist beträchtlich.
Gleichzeitig wäre es wichtig, die Idee einer Leitkultur der Nachhaltigkeit auch auf wirtschaftskulturelle Bereiche auszudehnen – also eine nachhaltige Personalpolitik, um nur ein Beispiel zu nennen.
Du gibst für jedes Kapitel eine Schlussfolgerung. Die Schlussforderung des ersten Kapitels ist, dass wir nach Covid die Illusion einer Rückkehr zur Normalität überwinden müssen. Welches «New Normal» siehst Du?
Der Wunsch nach Normalität ist angesichts der gegenwärtigen Krisen und ihrer unabsehbaren Folgen plausibel. Aber es wird sie nie geben, diese Normalität, und es hat sie nie gegeben. Aus einem ganz einfachen Grund: Messen sind per definitionem Orte, an denen das Gestern und Heute ins Morgen weitergedacht wird. Man sollte das nicht mit dem Wunsch verwechseln, überschaubare Routinen der operativen Ebene sichern zu können.
Im Kapitel 9 sprichst Du von «schwachen Signalen», die es für eine Zukunft zu lokalisieren gibt. Wie schafft man eine Kultur, die offen ist für schwache Signale und wie erkennt und ergreift man sie?
Über das Internet als Quelle habe ich ja schon gesprochen. Es gibt darüber hinaus eine Reihe von technischen und interpretativen Methoden, vom Einsatz Künstlicher Intelligenz bis hin zum systematischem, aber ergebnisoffenen Austausch von Menschen. Sie im Einzelnen darzustellen, würde jetzt zu weit führen.
Wichtig ist nur, dass wir die Konfrontation der Datafizierung einerseits und der offenen Sicht auf die Welt andererseits auflösen und – wenn ich einen wissenschaftlichen Begriff gebrauchen darf – hermeneutische Methoden zur Auswertung von Big Data nutzen. Das heißt: die rein fachbezogenen Kompetenzen der Mitarbeiterschaft zu ergänzen durch intellektuelle Beweglichkeit und die Grenzüberschreitung von Ressorts, Branchen oder auch Hierarchien. Und dies nicht nur im einzelnen Unternehmen selbst, sondern im Verbund.
Konkret: Es ist an der Zeit, exklusive Datenräume zu schaffen, in denen alle Erkenntnisse des Messewesens in den so genannten «nicht rivalisierenden» Bereichen», zur Verfügung gehalten werden. Die deutsche Automobilindustrie z. B. hat sowas ja schon mit dem Konzept Catena-X realisiert.
Zum Thema schwache Signale: Hätte die Messewirtschaft oder die Gesamtwirtschaft Covid antizipieren und dann handeln müssen?
Um diese Frage zu beantworten, stelle ich eine Gegenfrage: Welche Herausforderung von gleichen Ausmaßen werden wir morgen erleben? Keiner kann das sagen. Es sind zu viele Faktoren, die sich wechselseitig beeinflussen, politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische und so weiter – eine Gleichung mit einer unbekannten Zahl an Unbekannten.
Wenn es keine Messen gäbe – was würde fehlen, was würde dann aus der Wirtschaft?
Die repräsentative Funktion die Gesamtwirtschaft würde fehlen, vor allem die Beschleunigung und Unterstützung der Vielfalt in der allgemeinen Innovationskultur.
Nicht nur instrumentelle Funktionen wie die Absatz- und Verkaufsförderung prägen das Gewerbe, sondern auch Informationsleistungen über den materiellen und immateriellen Nutzen von Produkten, internationale Kommunikation und Vertrauenssicherungen in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft.
Messen stehen zudem oft symbolisch für die Attraktivität von Regionen und industriellen oder Dienstleistungs-Clustern. Sie leisten Beiträge zur direkten oder indirekten gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Das Wichtigste aber ist: Messen sind Dokumentationen angewandter Zukunftsforschung und damit existenzielle Teile der Wissensgesellschaft.
Als Fazit: Was hast Du in Deiner Beschäftigung mit der Messewirtschaft gelernt, was Du vorher nicht gewusst hast? Wie können wir diese Erkenntnis fruchtbar machen, was sind die Chancen?
Die Vielfalt, und die Verflechtung dieser vielfältigen wirtschaftlichen Aktionsfelder – das (ist?) alles zum Bestaunen und Anfassen. Das bedeutet auch, dass alle Aktionsfelder der regionalen wie globalen Wirtschaft in vielfältigem Zusammenwirken Zukunft erzeugen – oft eine Zukunft, die niemand geplant, und nicht selten auch eine, die niemand gewollt hat.
Ich sehe aber auch eine zu eng gezogene Grenze zwischen B2B und B2C. Denn wenn ich die Enkelkinder betrachte und ihre Begeisterung für Technik, dann würde ich mit denen, um nur ein Beispiel zu nennen, schon mal gern auf eine Messe für Spezialmaschinen gehen.
Davon abgesehen: ganz gleich ob aus der Perspektive eines Rohstofflieferanten von Unternehmen, die Verpackungsmaschinen, Komponenten für Absaugeinrichtungen oder Software für Lieferketten-Management herstellen: das Endprodukt ist immer Teil des Alltags, eines Alltags, in dem sowohl die Segnungen der Innovationen als auch ihre Folgekosten zu tragen sind. So dass, wenn man diesen Aspekt einbezieht, der erweiterte Blickwinkel auf den Endkonsumenten, den Faktor C, ungeahnte innovative Impulse provoziert, auch für die Inszenierung, das Kerngeschäft jeder Messe.
*Dr. Holger Rust ist em. Professor für Wirtschaftssoziologie. Er lehrte und forschte unter
anderem an den Universitäten Hamburg, Wien und Hannover und ist seit mehr als 35 Jahren Scientific Consultant für Unternehmen und politische Institutionen. Er ist Autor von mehr als 30 Fach- und Sachbüchern. Seine kritischen Fachpublikationen zur Zukunftsforschung und zu Transformationsfolgen sind in renommierten Wirtschaftsmagazinen erschienen.
Interview: Urs Seiler
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