«Klassische Messen holen niemanden mehr ab»
- Barbara Comiotto, Martin Rohr
- 23. Apr. 2021
- 3 Min. Lesezeit
Das Rezept gegen veraltete Veranstaltungsformate heisst Kollaboration. Die preisgekrönte Agentur melt. schildert die Säulen einer neuen Philosophie.
by Barbara Comiotto, Martin Rohr* | 21. April 2021

Barbara, Martin, was beschäftigt Euch zurzeit am meisten?
Wir sind COVID-müde. Eine «Fatigue» hat grosse Bereiche im geschäftlichen und privaten Umfeld erfasst. Resultat ist eine Ermüdung, ja Resignation, was die Zukunft und notwendige Veränderungen betrifft. Wir sind froh, wenn diese Ära vorüber zieht.
melt. hat zum Glück schon pre-COVID-19 strukturelle Veränderungen vorangetrieben. Mit der Devise «raus aus der Komfortzone» haben wir unsere Neuorientierung bereits vor der Pandemie in Angriff genommen. Und trotzdem ist es natürlich nicht so, dass uns die ganze Situation nicht beschäftigt, sie ist für alle gleich schwierig.
Welchen Transformationsprozess hat melt. durchlaufen?
Unsere Transformation bestand in der Reduktion unserer Abläufe und unseres Overheads. Zudem entwickeln wir heute mehr eigene Projekte und suchen dann Partner und Financiers, die uns helfen, eine Idee umzusetzen.
Zusammen und in Kollaboration mit Menschen in der dritten Lebensphase haben wir das Projekt AIAS-Community.ch entwickelt für soziale und digitale Innovationen, die dieser Generation einen echten Gewinn bringen sollen und gleichzeitig die Kompetenzen dieser Generation einbeziehen und nutzen.
Zurzeit läuft dazu unsere Online-Umfrage und ein Resultat wird schon vor Abschluss sichtbar: Ältere Semester sind digital viel, viel agiler, als man das herkömmlich glaubt. Deshalb haben wir sie auch gefragt: Was hindert sie, auf Augenhöhe mit dem Rest der Welt, nicht nur mit ihresgleichen, zu kommunizieren?
Szenografie jenseits von Ego:
Vom Design- zum Production-Sprint
Was sind die Säulen Eures Denkens und Handelns?
Wir nutzen mehr und mehr die Methode des «Design Sprints». Im Sprint wird, in Wochenfrist, eine Lösung für eine Aufgabe gesucht und hergestellt. Das Entscheidende daran ist, dass Lösungen von Beginn weg gemeinsam mit dem Kunden entwickelt werden. Ein Scheitern wie in einem Pitch wird schon im Ansatz verunmöglicht. Im Design Sprit wird eine rasche effiziente Lösung, gesucht.
In der Zusammenarbeit mit dem Kunden entfallen auch störende hierarchische Rollen innerhalb des Organigramms des Kunden. Ego und Arroganz sind gestrig und finden keinen Platz mehr. Sprints legen eine neue Kreativität und Kollaboration dar, die anders nicht zum Vorschein kommt und als Agentur schiesst du nicht am Ziel vorbei, weil es von Anfang an gemeinsam anvisiert wird.
Der Charme eines Design Sprints liegt in seiner Schnelligkeit und Einfachheit. Unser nächstes grosses Thema ist der Production Sprint. Wir wollen einen ähnlich getakteten Prozess finden für den nachfolgenden Produktionsprozess. Das ist unser neues transformatives Ziel. Werden wir es erreichen? Wieso nicht? Was spricht dagegen?
Gibt es weitere Beispiele positiver Kollaborationen?
Uns fasziniert das neue Konzept der «Migros Bridge» in der Europaallee beim Hauptbahnhof in Zürich, weil sich eine grosse Marke wie die Migros nicht schamlos selber inszeniert, sondern in Kollaboration mit anderen Anbietern eine Food-Hall und damit, mit einem Concièrge, einer Bar und weiteren Erlebniselementen, ein Kundenerlebnis schafft. Kollaboration kann einer Marke helfen, in neue Sphären einzudringen. Hier geht es nicht mehr um das Ego der Marke, es dreht sich alles um den Kunden als Gast.
Was kann der Raum als Sprache, was online nicht kann?
Im Raum kannst Du alle Sinne des Menschen ansprechen und berühren, online bist Du reduziert auf Sehen und Hören. Dank dem Einbezug aller Sinne kannst du live ein Erlebnis viel stärker beeinflussen.
Dafür kannst Du online mehr nachbessern. Vielleicht geht es aber nicht mehr so lange, bis Algorithmen auch online viele unserer Sinne ansprechen werden.
«Ich glaube, Messen wie wir sie kennen,
wird es irgendwann nicht mehr geben.»
Wie seht Ihr die Zukunft von Messen?
Dass Messen nicht mehr wie früher funktionieren ist unserer Ansicht nach nicht durch COVID-19 verursacht, sondern durch das zunehmende Onlinebusiness, sie wurden gewissermassen von «Online» überholt. Online hat man heute teilweise ein viel besseres Kundenerlebnis: schnell und transparent, zeitsparend, kostengünstiger, weil Reisen entfallen und ein Konkurrenzvergleich ist im Handumdrehen möglich.
Wir glauben, Messen wie wir sie kennen, wird es irgendwann nicht mehr geben. Meist fehlt das Erlebniselement und man geht kaum noch auf eine Messe um etwas zu kaufen. Die Vielfalt an Produkten erhält man ja im Handel auch und mehr und mehr auch sehr gut inszeniert. Klassische Messen holen niemandem mehr ab.
Im Gegensatz zu Messen bietet der Handel ein spannenderes Erlebnis. Shoppincenter sind Orte des Freizeiterlebnisses. Messen können sich aufgrund ihrer temporären Erscheinung gar nicht zu solchen Hotspots entwickeln.
Wie geht es jetzt weiter in der Live Kommunikation, alles digital oder was?
Die Digitalisierung hat sehr viele positive Aspekte. Wir würden woanders ansetzen. Viele Messen werden als nicht oder nicht mehr authentisch empfunden.
Was heisst authentisch?
Unserer Ansicht nach kann man Authentizität nur erreichen, durch den von uns geschilderten Prozess – indem ein Projekt, auch eine Messe, von Anfang an mit dem Kunden respektive mit den wichtigsten Interessengruppen gemeinsam entwickelt wird. Wer kundenorientiert plant, der entwickelt automatisch Projekte, die funktionieren. Kollaboration ist der Schlüssel der Zukunft.
*Barbara Comiotto, Martin Rohr sind die Kollaborateure des preisgekrönten Büros melt. in Zürich.
Interview: Urs Seiler
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