«Messen sind Foren der Zukunftsforschung: Hier werden die Möglichkeitsräume eröffnet - nicht bei den Verrenkungen der angeblichen «Trendforscher»
- Holger Rust
- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 2 Tagen
Das Versprechen 'Bildung' hat sich nicht erfüllt, sagt der emeritierte Soziologieprofessor Holger Rust. Aber als Autor von «Messewirtschaft und Innovationskultur. Herausforderungen für eine repräsentative Branche und ihre Kundschaft» wünscht er sich, dass die Messebranche noch mehr als bisher als wesentliches Element der europäischen Wissensgesellschaft erkannt wird. Was geht hier vor?
Holger Rust || 1. Juli 2025

In Kürze
Die Messewirtschaft stellt einen fundamentalen Aspekt der Wissensgesellschaft dar.
Die populäre Gilde der «Zukunftsforscher» betreibt ja nichts Anderes als Zweitvermarktung - weit jenseits von Wissenschaftlichkeit.
Wenn schon von Elfenbeintürmen die Rede ist: die stehen in Redwood, Cupertino oder Mountain View. Kein Mensch außerhalb dieser Gefilde weiß heute, was da passiert.
Ganzen Alterskohorten gemeinsame Merkmale zuzuschreiben, der beliebte Sport von «Trendforschern», ist und bleibt nur ein statistischer Unsinn.
Social Media ermöglichen jedem und jeder in kürzester Zeit, Informationen zusammenzutragen – auch verständliche...
Trotzdem vertraut man offensichtlich mehr und mehr den ganz einfachen Botschaften, verkürzten Kausalitäten und trüben Quellen.
Ich würde ich mir wünschen, dass die Messebranche noch mehr als bisher als wesentliches Element der europäischen Wissensgesellschaft erkannt wird.
Holger Rust, Du bist als emeritierter Soziologieprofessor und Trendkritiker ein angesehener Wissenschaftler und könntest Dich in Deinem schönen Hamburg bequem dem Ruhestand widmen. Was treibt Dich zurzeit am meisten um und lässt Dich nicht schlafen?
Was einem grad den Schlaf raubt, ist in einem kurzen Interview kaum alles zu fassen – weltpolitisch, wirtschaftlich, kulturell. Bleiben wir beim Naheliegenden.
Das mit dem Ruhestand ist in meinem Beruf wenig ausgeprägt, man hört ja nicht auf zu denken, das heißt zu forschen. Die Kommunikation über die klassischen Fragen der soziologischen und ökonomischen Forschung geht ja weiter, allen voran diese: Was bringt die Zukunft? Und was können wir alle aktiv dazu tun, dass endlich mal die Erwartungen, die wir an die Zukunft haben, realisiert werden?
Ich habe also auch nach dem Ende der aktiven Tätigkeit eine ganze Reihe von Projekten initiiert und weiterhin mit vielen Studierenden zusammengearbeitet. In den Social Media, LinkedIn oder Xing zum Beispiel, kann ich die Karrieren dieser Absolventinnen und Absolventen verfolgen und Kontakte mit ihnen halten.
Du hast als Soziologieprofessor während Deiner ganzen Karriere junge Leute ausgebildet und beruflich begleitet. Was ist Deine Vorstellung von der berühmten Generation X, die jetzt bereits von der Generation Alpha abgelöst wird? Sind sie so uninteressiert und mental schwach, wie häufig zu hören ist? Wie nahe bist Du noch dran an den Jungen?
Ich habe ja einige sogenannte „Generations“ erlebt, Generation Golf, Generation @, Generation X, Y und nun Generation Z. Dazwischen gab’s die Bohos, Lohas oder Yuppies und was da sonst noch alles an Avataren unterwegs war...
Es war, ist und bleibt ein statistischer Unsinn, ganzen Alterskohorten bestimmte gemeinsame Merkmale zuzuschreiben, wie es ja ein beliebter Sport von Trendforschern ist. Die konkurrieren ja bloß in der Aufmerksamkeitsökonomie um die Verkäuflichkeit lärmender Begriffe.
Dahinter steckt ein publizistischer Trick: Die Charaktere werden ja so beschrieben, in Arbeitsstil, Freizeit, Mode, Konsum, dass sich jeder was raussuchen kann und plötzlich auf die Idee kommt: hey, ich bin ja Teil der Generation Z oder was auch immer.
Krass gesagt: Es sind alles Medienerfindungen, Hypes, die manchmal eine Zeitlang auch das Verhalten von jüngeren Leuten beeinflussen können. Der Hintergrund ist sichtlich nur dies: Märkte schaffen. Aber zuerst für sich selber, bitte sehr! Also eigentlich eine Art „Guerilla Marketing“. Für die Wirtschaft bedeutet das ein gewisses Risiko, weil in diesem Konkurrenzkampf natürlich ununterbrochen nach neuen Trends gesucht wird und gesucht werden muss.
Du bist Autor der Bucherscheinung «Messewirtschaft und Innovationskultur. Herausforderungen für eine repräsentative Branche und ihre Kundschaft», worauf ich später eingehen werde. Zunächst aber möchte ich auf Deine brandneue Buchausgabe «Bildungsrepublik Deutschland. Gescheit oder gescheitert?» zu sprechen kommen. Worum geht es hier und was war Dein Antrieb?
Das hängt ja alles zusammen.
Die „Messewirtschaft“ und der Schwerpunkt des Buches, die „Innovationskultur“ sind eng mit den Arbeiten verknüpft, die davor erschienen sind, insbesondere was die „neue Zukunftsforschung“ angeht.
Denn Messen sind, wie wir später noch besprechen können, Foren angewandter Zukunftsforschung. Sie sind zudem auch Institutionen der Bildung. Hier werden Möglichkeitsräume eröffnet, Technikleitbilder und Lebensstile entworfen. Hier erhält man Einsichten in das, was Wissenschaft, Forschung und entsprechende Bildung praktisch bedeuten.
So wird also sehr deutlich, dass die Messewirtschaft einen fundamentalen Aspekt der Wissensgesellschaft darstellt, die sich eine Art Verfassung als „Bildungsrepublik“ gibt – ein Begriff. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Begriff als eine Art politisches Programm geprägt.
Du widmest in «Gescheit oder gescheitert? Bildungsrepublik Deutschland» zwei Kapitel der sogenannten «Trendforschung» und deren Exponenten. Damit hast Du Dich schon vor 25 Jahren zum ersten Mal befasst und seither stets. Was ist der aktuelle Grund, dass Du auf das Thema zurückkommst?
Ganz einfach: Weil behauptet wird, dieses Gewerbe, das ja wie schon angedeutet, nichts anderes ist als ein Vorläufer heutiger Influencer, sich in einer heftigen Konkurrenzsituation befindet und einige als Verkaufsargument angebliche Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Vor allem Soziologie. Im Grunde genommen betreiben sie aber nichts anderes als die Zweitvermarktung von Entwicklungen, die längst erkundet sind. Ich nenne sie deshalb auch die „Spatzen der Minerva“, die bei hellem Tageslicht herumzwitschern und in fast kabarettistischer Konkurrenz ununterbrochen lärmende Anglizismen auf den Medienmarkt schmeißen.
Dabei werden oft einfach auch Begriffe übernommen und als eigene ausgegeben, die es seit Jahrzehnten gibt: „Flexicurity“, ein Terminus aus der Forschung der niederländischen Universität Tilburg, „Creative Class“, die „Ich AG“, „Peace Age“ oder "Omni-Krise“.
Von wem stammt denn der Begriff ursprünglich?
Der Begriff Omni-Krise stammt vom amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt und dem italienischen Philosophen Antonio Negri im Weltbestseller „Empire: Die neue Weltordnung“, verfasst im Jahr 2000, im Original zu finden auf der Seite 189.
Die Wissenschaft, die diese Dinge lange schon als Möglichkeiten, Hypothesen, Denkmodelle formulierte, wird nicht zitiert, was ja schließlich nichts anderes heißen kann, als dass man die Leserschaft und die Journalisten für zu blöd hält, das auch zu merken. Gleichzeitig und als Begleitstrategie wird Wissenschaft als herkömmlich, unfähig, verkrustet angegriffen. Und zwar seit ungefähr 30 Jahren in zunehmender Aggressivität. Einer der bekannteren «Zukunftsforscher» geriert sich dabei als Universalwissenschaftler, der nach eigener Aussage bis zu fünfzehn (!) Disziplinen verfolgt und daraus eine eigene «Alternative» schmiedet.
Und andere, von mir so genannte «New Public Intellectuals», Bestseller-Autoren über jedes erdenkliche Thema, behaupten ebenfalls, stets auf dem „neuesten Stand der Wissenschaft“ zu sein. Das ist aber nur ein geringer Teil des Bildungsproblems und nimmt daher auch jeweils nur ein Kapitel von «Bildungsrepublik Deutschland. Gescheit oder gescheitert?» in Anspruch.
Und wie sieht das ganze Problem aus?
Viele Medien scheinen ihre Gegenrecherche eingestellt zu haben. Ich habe fast den Eindruck, sie akzeptieren diese Aufschneiderei vorgeblicher Wissenschaftlichkeit, um den Abdruck dieser „Zukunftsillusionen“ ohne weitere Recherche zu legitimieren. Auch diesem Thema widmet mein Buch ein Kapitel.
Dabei tritt ein seltsamer Widerspruch zutage, der mich vor allem interessiert: Denn gleichzeitig vertrauen Milliarden von Social Media-Usern der Wissenschaft, nämlich zum Beispiel der hochkomplexen Angewandten Mathematik, wie sie von den Tech-Companies zur Entwicklung von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz genutzt wird.
Wenn schon von Elfenbeintürmen die Rede ist, in denen seltsame Gestalten utopische Wirklichkeiten entwerfen, dann sollte man zur Kenntnis nehmen, dass die nicht auf dem Gelände von Harvard, der ETH in Zürich oder der LMU in München stehen, um nur drei Beispiele zu nennen. Sie sind auch nicht die Gehäuse der Fraunhofer-Institute oder Max Planck-Gesellschaften, der Europäischen Forschungsverbünde oder der Unternehmensforschung. Nein, die stehen in Redwood, Cupertino oder Mountain View. Kein Mensch außerhalb dieser Gefilde weiß heute, was da passiert.
Weshalb ist das so?
Es gibt eine bestürzende Antwort, die in allen Großstudien, wie z. B. PISA bestätigt wird: Das Versprechen, mit Bildung auch eine entsprechende „Lebens-Rendite“ zu erwirtschaften, also beruflich weiterzukommen, sich ein gutes Leben leisten zu können usw., hat sich nicht erfüllt. All das ist weiterhin in erheblichem Maße von der Herkunft abhängig. Anders ausgedrückt: Von der Bildung profitieren vor allem die, die schon über welche verfügen. Oder so rum als wicked problem: Das Ergebnis, das durch Bildung erreicht werden sollte, ist die Voraussetzung seiner selbst. Gleichzeitig sehen sich gerade die weniger bildungsnahe Milieus von den gegenwärtigen Problemen mehr bedrängt als andere. Das ist politischer Sprengstoff.
Wo steht die Bildungspolitik heute in Deutschland und in Europa?
Überraschenderweise befinden wir uns in einer historisch einmaligen Situation. Es gibt mehr Wissen als jemals zuvor. Es gibt mehr Möglichkeiten, daran teilzuhaben. Die europäische Forschungslandschaft erreicht nie gesehene Ausmaße. Social Media ermöglichen jedem und jeder in kürzester Zeit, Informationen zusammenzutragen – auch verständliche...
Die Bildungspolitik stellt unglaublich viel Informationskanäle zur Verfügung. Ich habe das im Buch über die „Bildungsrepublik“ ausführlich dargestellt. Dabei wird aber auch die Frage aufgeworfen, ob nicht zur Verwirklichung des Versprechens auch mehr individuelle Teilhabe aller Menschen erforderlich ist. Trotzdem vertraut man offensichtlich mehr und mehr den ganz einfachen Botschaften, verkürzten Kausalitäten und trüben Quellen.
In Deinem Buch über die „Bildungsrepublik“ sagst Du unter anderem auch, während der Corona-Pandemie «traten Verweigerer und Impfgegner und andere Repräsentanten einer irrational oder strategisch begründeten Opposition gegen alles Wissenschaftliche auf den Plan.» Ist das nicht polemisch, Holger? Haben denn Deiner Meinung nach die Impfgegner im Nachhinein nicht recht bekommen mit ihrer Opposition? Hast Du Dich und Deine Familie kritiklos impfen lassen? Du sagst ja selber in einem unserer Interviews: «Die Nachcorona-Analyse ist nur peinlich»?
Zunächst zum letzten Satz: Der bezog sich auf einen Schnellschuss eines Zukunftsforschers, der schon im März 2020 prophezeite, dass „wir“ im September der ersten Coronawelle bereits erleichtert im Straßencafé in der Sonne sitzen und uns darüber wundern würden, warum wir uns so geängstigt hätten. Eine völlig neue Gelassenheit würde entstehen und so weiter. Was draus geworden ist, sehen wir im Nachhinein.
Was Impfungen betrifft, sind wir wohl unterschiedlicher Meinung. Aber an der Entwicklung des mRNA-Impfstoffes zeigt sich noch etwas Anderes: eine viele Jahre in der Schattenzone des öffentlichen Desinteresses betriebene Forschung erwies ich plötzlich als zukunftsweisend, und das nicht nur für Corona. Dafür gab es schlussendlich dann sogar einen Medizin-Nobelpreis.
Und was die Verschwörungstheorien betrifft, gab es ja nun wirklich skurrile Konstruktionen von einer Elite, die uns angeblich mit der Impfung Nanopartikel einpflanzen wolle und allerlei Absurdes mehr. Es zeigt auch, dass in diesen Info-Blasen politische Kräfte am Werk waren, die dem demokratischen Gedanken und dem auf ihm beruhenden Wirtschaftssystem nicht besonders gut taten.
Was erhoffst Du Dir von der neuen deutschen Bildungsministerin Karin Prien?

Wie von jedem Politiker und jeder Politikerin: Die Umsetzung der geschriebenen und ungeschriebenen Verfassung unserer Republiken: Das heißt Chancengleichheit, von Anfang an. Für jedes Kind. Ebenso wichtig ist aber auch, alle schon vorhandenen Möglichkeiten außer- und nachschulischer Weiterbildung breiter in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Schließlich das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Forschung und Wissenschaft oft deshalb unsichtbar bleiben, weil sie Probleme erkennen, die der Allgemeinheit ohne diese Forschung ziemlich zusetzen würden. Künstliche Intelligenz als Mittel der Früherkennung komplexer Zusammenhänge von krankheitsrelevanten Aspekten zum Beispiel. Oder der Bereich der Technikentwicklung und der relativ jungen Disziplin der Folgenabschätzung, die einen wesentlichen Teil der angewandten Forschung ausmacht, wie er sich dann zur großen Überraschung in erster Linie auf Fachmessen der Öffentlichkeit als sensationelle Innovationen präsentiert.
Letzte Frage: Worum geht es in Deinem im Springer-Verlag erschienen Buch „Messewirtschaft und Innovationskultur.“ Und was war Dein Antrieb?
Ganz einfach. Da Zukunftsforschung über Jahrzehnte zu den Aufgaben meiner universitären Lehr- und Forschungstätigkeit zählte, stößt man zwangsläufig auf diese Branche.
Es gibt derartig viel Wissen, so viele Diskurse und Diskussionen. Und es war reizvoll, all diese Impulse, Aussagen, Fakten, Daten, Einschätzungen und Zukunftsentwürfe einmal mit den Mitteln digitaler Contentanalyse zusammenzufassen und die wesentlichen Befunde zu systematisieren.
Ansonsten zeigen uns ja die vielfältigen Messen, was Wissenschaften und insbesondere die seriöse Zukunftsforschung wirklich zutage fördern. Insofern würde ich mir wünschen, dass die Messebranche noch mehr als bisher als wesentliches Element der europäischen Wissensgesellschaft erkannt wird und als Umsetzung der ungeschriebenen Verfassung einer „Bildungsrepublik“ – nämlich Optionen und Lebenschancen zu vermitteln. So hat es der berühmte Soziologe und Ökonom Ralf Dahrendorf schon den 70er Jahren trefflich ausgedrückt.
Interview: Urs Seiler
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