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Zukunft Messe: «Alarmzeichen nicht länger ausblenden»

Ein wesentlicher Punkt des Leistungsversprechens von Messen ist trotz Pandemie intakt geblieben: Die persönliche Begegnung. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, die persönliche Begegnung aufzuwerten - zu transformieren.


by Juliane Jähnke* und Florian Bauer* | 22. November 2021


short cuts

Dramatisch schlechte Werte: Bereits 2017 veröffentlichte

der Welt-Messeverband UFI einen globalen Net Promoter Score

der Branche, eine Weiterempfehlungsrate, von minus 17 (!).


Content-Management: Lösungen wie «content as a service»

müssen vor allem für KMU angeboten werden.


Eine Messe, die nur einmal im Jahr

oder nur alle zwei oder drei Jahre stattfindet,

hat wenig Gelegenheit, vom Markt Feedback zu erhalten.


Die persönliche Begegnung sorgt für einen Facettenreichtum,

wie ihn die digitale Welt auf absehbare Zeit nicht wird liefern können.



Corona hat der Messewirtschaft zugesetzt. Langfristige Auswirkungen auf das bisherige Geschäftsmodell Messe zeichnen sich immer deutlicher ab. Sinkende Reisebereitschaft, der Klimawandel mit Ressourceneinsparungen und die umfassende Neuorientierung einer jungen Generation von Entscheidern setzen die von globalen Leitmessen geprägte Messewirtschaft in Deutschland unter Druck.


Messen müssen damit rechnen, dass ihr klassisches Geschäftsmodell nicht mehr in dem Umfang funktionieren wird, wie vor der Pandemie. Sie werden ihre Leistungsversprechen mit differenzierten Formaten und Preisen erneuern und an die digitale Welt des Marketings anschlussfähig machen müssen. Ansonsten drohen Einbrüche von 30% und mehr – bei Kundenzahlen, bei Erlösen und, noch dramatischer, bei der Marge.


Das Glas ist halb voll! smartville.digital-Topinterview zur Initiative «Zukunft Messewirtschaft».


Florian Bauer, Vocatus hat in seiner Geschichte bereits mehrfach Branchen bei der Transformation begleitet. Welche Situation siehst Du in der Messewirtschaft?

Die Corona-Pandemie hat der Messewirtschaft eine abrupte Vollbremsung beschert, ohne dass diese dafür etwas konnte. Gleichwohl hat sich bereits lange vorher abgezeichnet, dass das «höher, schneller, weiter» zusehends an seine Grenzen kommt und dass viele Aussteller einen subtilen Zwang und einen teilweise ruinösen Überbietungswettbewerb ihrer Messebeteiligungen beklagten. Bereits 2017 veröffentlichte der Welt-Messeverband UFI einen globalen Net Promoter Score der Branche, also eine Weiterempfehlungsrate, von minus 17. Ein Viertel der Messen wies gar einen NPS von weniger als minus 36 auf. Das sind dramatisch schlechte Werte.


Gibt es Parallelen zu anderen Industrien?

Das wird gerade jetzt deutlich in einer Phase, wo die Zwangspause langsam endet und erste Messen wieder stattfanden. Die Alarmzeichen, etwa gesunkene Beteiligung und kleinere Stände, werden systematisch ausgeblendet und ermutigende Faktoren überbewertet.


Bei den Printverlagen haben wir gesehen, dass Entwicklungschancen, gerade in der digitalen Welt verschlafen, falsch bepreist und halbherzig und mit dem Verständnis aus der Welt eines veralteten Geschäftsmodells angegangen wurden. Einige Jahre später hat sich deren Geschäftsmodell grundlegend gewandelt. Digital ist ein enormer Wachstumsmotor, neue, differenzierte Produkte und vor allem neue Monetarisierungsansätze, die ursprünglich nicht beachtet wurden, treiben heute das Geschäft voran. Dieser Wandel steht auch der Messewirtschaft bevor.



Juliane Jähnke, agendum begleitet Messeveranstalter seit über zwanzig Jahren bei der Entwicklung von neuen Formaten. Inwiefern teilst Du die Einschätzung von Florian Bauer?

Es fällt mir nicht leicht, Florians Diagnose zu bestätigen, aber leider ist es so, ja: Im Rausch des anhaltenden Wachstums wurden Warnsignale ausgeblendet und der Mut zur Veränderung war bescheiden. Und jetzt erleben wir eine Fortsetzung dieses Phänomens. Aber ich möchte kein Bashing betreiben.


Es ist viel leichter, auf der grünen Wiese Neues zu wagen, als wenn man in einem von Pfadabhängigkeiten geprägten Umfeld riskante Entscheidungen treffen muss. Die Cebit etwa hat die Transformation nicht mehr rechtzeitig geschafft und bei der IAA Mobility ist das Heu auch noch nicht im Trockenen. Ganz allgemein herrscht in der Branche gerade eine große Unsicherheit, wo die Reise wirklich hingeht. Das sind alles deutlich wahrnehmbare Signale wie ehemals in der Printindustrie. Machen wir nicht den gleichen Fehler wie die Verleger – nehmen wir die Signale an, nehmen wir sie ernst.


Was sind Ansätze für eine Erfolg versprechende Transformation?

Gemeinsam mit Vocatus hat agendum vier Bereiche identifiziert, wo wir der Messewirtschaft quantifizierbare Erfolge versprechen können: Produkt- und Preisdifferenzierung als maßgeblicher Erfolgsfaktor, der realisierte Erfolg von Ausstellern und Besuchern als kritischer Gradmesser, die sinnvolle Bewirtschaftung von Daten und relevanter Content als Jungbrunnen für den «Kontextbooster» Messe.


Florian Bauer, welche Rolle spielen in diesem Kontext moderne Managementtheorien wie «Behavioral Economics», mit denen Vocatus arbeitet?

Die entscheidende Rolle! Das aus der Vermietung von Messefläche erwachsene und historisch fortgeschriebene Pricing muss diversifiziert werden. Die tradierten Preismodelle orientieren sich kaum mehr am Kundennutzen oder an der tatsächlich ablaufenden Buchungsentscheidung beziehungsweise der vorhandenen Preisakzeptanz, geschweige denn am erzielten Kundenerfolg.


Hier gilt es dringend mit stärker leistungsorientierten Preismodellen verlorenen Boden wieder aufzuholen, um die Anschlussfähigkeit nicht zu verlieren. Die Notwendigkeit, den Marketingerfolg jedes Kanals mess- und vergleichbar zu machen, wird zur Existenzvoraussetzung. Wenn wir hier erfolgreicher werden wollen, müssen wir unsere Vermarktungsstrategie stärker danach ausrichten, wie unsere Kunden, Aussteller und Besucher, tatsächlich entscheiden und hier hilft Behavioral Economics weiter.


Was genau bedeutet «Anschlussfähigkeit»?

Die grundlegendste Veränderung betrifft das Selbstverständnis der Messe als Marketinginstrument: Messen werden in Zukunft eine neue multilaterale Anschlussfähigkeit an digital dominierte Wertschöpfungsketten im Marketing brauchen, um ihren Platz zu behaupten oder gar ausbauen zu können. Auch in Sachen Preismetrik herrscht Nachholbedarf. Im Subscription Management etwa ist die Akquise erst der Beginn des Vertriebsprozesses, der auf kontinuierliches Upselling und Individualisieren der angebotenen Lösung abzielt. Die zentrale für den Erfolg ausschlaggebende Kennzahl (KPI) ist der wiederkehrende Umsatz (recurring revenue). Der ist zu managen, nicht der einmalige Umsatz.


Juliane Jähnke, welchen Nutzen kann Digitalität der Messewirtschaft erbringen?

Ein Grund, warum sich die Messewirtschaft mit ihrer eigenen Innovation und Transformation so schwergetan hat, sind die Entwicklungszyklen. Eine Messe, die nur einmal im Jahr, oder gar nur alle zwei oder drei Jahre stattfindet, hat wenig Gelegenheit, vom Markt Feedback für Ideen zu erhalten.


Kundenresponse ist aber die Grundvoraussetzung für Transformation. Mit der größeren Offenheit für digitale Formate und der von der Pandemie mitverursachten Kurzfristigkeit in vielen Branchen stehen uns jetzt mehr Möglichkeiten offen, näher an die Kunden und ihre Bedürfnisse heranzurücken. Gemeinsam mit Vocatus nehmen wir uns das zu Herzen, indem wir der Messewirtschaft offene Campfires anbieten. Agilität ist dabei das Herz jeder Transformation.


Was wird in Euren Campfires geboten?

Campfires sind ein niederschwelliger Zugang zu unserem Angebot. Sie bieten exklusive Einblicke in einem exklusiven Kreis. Maximal sechs Teilnehmende profitieren von einer Mischung aus Insights, Inspiration und Interaktion. Am Ende nehmen alle ganz konkrete Einschätzungen darüber mit, welche Chancen für sie, ihr Unternehmen oder ihre Messe in einer innovativen Transformation anhand unserer Thesen liegen.


Welche Rolle spielt Vocatus in diesem Prozess der drei «I»?

Gemeinsam mit agendum bieten wir maßgeschneiderte Scoping-Workshops an. Diese dienen dem Erarbeiten, wo für das Geschäft, das Portfolio oder eine Messe des Kunden die größten Herausforderungen und Potenziale aus dem Umbruch in der Branche erwachsen. Dabei werden verschiedene Felder, wie das Geschäftsmodell, das Leistungsangebot, die Preisstrategie und der Vertrieb berührt im Hinblick auf Aussteller und Besucher.


Beide sagt Ihr, das Glas sei halbvoll. Was macht Euch da so sicher, Juliane?

Ein wesentlicher Punkt des Leistungsversprechens von Messen ist vollkommen intakt geblieben: Die persönliche Begegnung, oder die «leibliche Präsenz», wie es Thomas Fuchs von der Uni Heidelberg so schön ausdrückt. Sie sorgen für einen Facettenreichtum, wie ihn die digitale Welt auf absehbare Zeit nicht wird liefern können. Im Gegenteil, die monatelange Beschränkung auf digitale Kanäle hat bei vielen Menschen eine regelrechte Sehnsucht nach Präsenzformaten geweckt. Wenn wir das nicht als Ausrede, sondern als Ansporn für echte Transformation nehmen, dann lässt sich das Geschäftsmodell Messe differenziert erneuern und mit kongenialen Partnern aus der digitalen Welt zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Dafür ist noch Platz im Glas.


*Juliane Jähnke ist geschäftsführende Partnerin von agendum Schmitt & Jähnke und langjährige Honorardozentin am Studiengang Messe-, Kongress- und Eventmanagement der DHBW Ravensburg.


*Prof. Dr. Florian Bauer ist Vorstand der Vocatus AG und Honorarprofessor an der TU München. Er hat Psychologie studiert und promoviert an der TU Darmstadt, dem MIT und in Harvard.


Die erfahrenen Akteure in der Strategieberatung, agendum und Vocatus

, machen gemeinsame Sache für die Zukunft der Messewirtschaft. Sie kooperieren in einer brandneuen «Das Glas ist halb voll: Initiative Zukunft Messewirtschaft.»


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