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An der Schmerzgrenze des Messegeschäfts: «Immer neue, immer unüberschaubarere Anforderungen, die das große gemeinsame Ziel gefährden»

Die inflationäre Entwicklung an Streiks, insbesondere im Verkehrssekto, trifft auch die Messewirtschaft drastisch. Deutschland verliert in vielen Disziplinen zunehmend den wichtigen Faktor der Verlässlichkeit, der insbesondere für unsere internationalen Kunden bisher ein hohes Gut darstellte. Offene Worte von Oliver P. Kuhrt, CEO der Messe Essen.

 

von Oliver P. Kuhrt || 26. März 2024

 


Sehr geehrter Herr Kuhrt, was beschäftigt Sie zurzeit am meisten und lässt Sie nicht schlafen? 

Ich schlafe zum Glück recht gut. Aber natürlich gibt es laufend neue Herausforderungen, die wir lösen müssen. 

 

Messe-Deutschland hat sich nach Corona glücklicherweise recht schnell wieder positiv entwickelt.  Aber der aktuelle Zustand ist höchst volatil. Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sind von hoher Unsicherheit geprägt. Der Kostendruck ist immens und ich persönlich schätze, dass der Messeplatz Deutschland auf Besucherseite über alle Veranstaltungen noch immer rund 10 - 15 Prozent unter Vor-Corona-Niveau liegt.

 

Das wiederum stärkt die Position des Controllers bei den ausstellenden Unternehmen. Sie gewinnen bei Entscheidungen hinsichtlich einer Messebeteiligung wieder eine höhere Bedeutung mit ihrer Forderung, wie viele Leads das Verkaufsteam von der Messe mitgebracht hat. Hier müssen und können wir den Marketingverantwortlichen die richtigen Argumente liefern. Leider wird in der Berichterstattung über Messen in der Regel zuerst das Thema der Besucherzahlen adressiert. Die viel wichtigere Frage der Qualität der Besucher spielt in den Medien fälschlicherweise meistens nur eine untergeordnete Rolle. 

 

Eine große Herausforderung für die Messegesellschaften ist aber auch die stark reduzierte Anzahl von Dienstleistern in unserem Geschäft. Viele haben Corona nicht überlebt, die Konzentration auf einige wenige Anbieter treibt die Kosten weiter nach oben. Hier kommen wir langsam an die Schmerzgrenze. Der allgegenwärtige Personalmangel tut sein Übriges dazu.

 

Welche Rahmenbedingungen braucht der Messeplatz Deutschland?

Die Messe Essen konnte 2023 mit einem überaus positiven Ergebnis abschließen, mit einem EBIT im knapp zweistelligen Millionenbereich. Erreicht wurde dies insbesondere durch eine hohe Anzahl neuer Veranstaltungsformate und einem stark wachsenden Kongress-Geschäft.

 

Aber aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen in Deutschland schauen wir durchaus mit Sorge auf das Jahr 2024. Die inflationäre Entwicklung an Streiks, insbesondere im Verkehrssektor, trifft auch die Messewirtschaft drastisch. Deutschland verliert in vielen Disziplinen zunehmend den wichtigen Faktor der Verlässlichkeit, der insbesondere für unsere internationalen Kunden bisher ein hohes Gut darstellte. Hinzu kommen die geopolitischen Krisen, die auf die Stimmung schlagen.

 

Was erwarten Gastveranstalter von einem Messeplatz an Unterstützung?

Es gibt viele attraktive Messegelände in Deutschland. Damit allein wirst du heute bei der Entscheidung eines Gastveranstalters nicht mehr «Matchwinner» werden. Wir sind froh, in Essen spätestens seit der weitreichenden Modernisierung unseres Geländes hier wieder mitspielen zu können. Das reicht aber nicht.

 

Neben der Kenntnis der Veranstaltungsinhalte ist dem Gastveranstalter vor allem aber auch Planungssicherheit für seine Messe wichtig. Unter anderem der Kostenrahmen, die Verlässlichkeit vereinbarter Durchführungszeiträume, ein Agieren auf Augenhöhe und eine ausgeprägte Dienstleistungsbereitschaft des Venue-Betreibers machen zudem den Unterschied. Ein Standortwechsel birgt für den Veranstalter Risiken, die man in allen Bereichen abfedern muss. 

 

Die Messe Essen war in den letzten Jahren mit der Akquisition von diversen Gastveranstaltungen sehr erfolgreich und wir sind in diesem Segment stark gewachsen, wie zum Beispiel mit der Altenpflege, der Baumesse, der China Homelife, der MoLö, der Lubricant Expo oder der Tankstelle & Mittelstand, um nur einige zu nennen. Geholfen hat uns dabei neben dem neuen Gelände vor allem die zentrale Lage der Messe Essen und eine überdurchschnittlich hohe Dienstleistungsbereitschaft im gesamten Team.

 

Wie kann man sich heute in einem sehr wettbewerbsstarken Umfeld mit seiner Messegesellschaft abheben?

Für mich steht und fällt der Erfolg hier mit dem Service. Das Gefühl für das ausstellende Unternehmen, in der gesamten Organisationskette einer Messebeteiligung lückenlos betreut zu werden. Das ist für mich einer der Schlüsselfaktoren für den erfolgreichen Turnaround der Messe Essen seit 2014. Wir wurden nicht ohne Grund drei Mal in Folge vom Magazin Testbild als Messeveranstalter mit der höchsten Servicequalität ausgezeichnet.

 

Die deutsche Messewirtschaft will bis im Jahr 2040 klimaneutral sind. Wie beurteilen Sie diese Roadmap? Welche Ernsthaftigkeit besteht in der deutschen Messewirtschaft und bei der Messe Essen zum Thema?

Wir stehen voll und ganz hinter diesem Ziel, und alle deutschen Messegesellschaften werden ihren Beitrag leisten, um dies zu erreichen. Ich mache mir jedoch große Sorgen, dass sich Deutschland dabei zunehmend mit bürokratischen Auflagen selbst stranguliert. Es entstehen immer neue, immer unüberschaubarere Anforderungen, die das große gemeinsame Ziel gefährden.

 

Die Messe Essen kann und wird sich nicht an die Speerspitze derer stellen, die sich unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit jeden Tag mit sich selbst beschäftigen. Die nachhaltige Ausrichtung ist heute wesentlicher Bestandteil der Unternehmensstrategie, sie muss aber auch genug Raum für die operativen Notwendigkeiten des Kerngeschäfts lassen.

 

Es gibt ohnehin unfassbar viele Gründe, warum der Besuch einer Messe im besten Sinne des Begriffs nachhaltig ist. Alleine die Möglichkeit, eine Vielzahl von Geschäftsreisen einzusparen, um im Rahmen eines One-Stop-Shops alle wesentlichen Branchenteilnehmer auf einer Plattform zu treffen, ist der beste Beweis für den positiven Anteil, den Messen zum gemeinsamen Ziel der Klimaneutralität beitragen können.

 

Leider ist dies politisch nicht überall so verankert. Während Messen vor einiger Zeit berechtigterweise noch als wichtiger Impulsgeber für die Wirtschaft wahrgenommen wurden, befinden wir uns nun immer wieder unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Dabei gibt es an allen deutschen Messestandorten schon heute große Bemühungen, bei Themen wie der Energieversorgung, der Mobilität aber auch der Entsorgung neue Wege zu gehen.

 

Aus meinen Gesprächen mit internationalen Kolleginnen und Kollegen nehme ich mit, dass man der Ansicht ist, dass wir in Deutschland gerne eine Schippe drauflegen. In weiten Teilen Europas wird das Thema der Klimaneutralität deutlich entspannter gesehen.

  


Seit mehr als 20 Jahren ist die Rede davon, dass die Weltleitmessen am Standort Deutschland abwandern, namentlich nach Asien. Auch die Messe Essen ist im Ausland unterwegs. Was hat man von der Messe Essen International im Ausland zu erwarten und in welchen Regionen? 

Auch wir schauen nicht nur auf den Standort Essen, das ist richtig. In China sind wir zum Beispiel mit der IPM ESSEN, der Weltleitmesse des Gartenbaus, und der Schweissen & Schneiden breit aufgestellt. Wir werden auch in China bleiben – das ist nach wie vor ein wichtiger Messemarkt.

 

Aber aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen der letzten Jahre in China und der damit entstandenen Unsicherheit bei unseren Kunden spüren wir ein verstärktes Interesse an Veranstaltungen in Südostasien. Gewinner dieser Situation werden auf kurz oder lang Länder wie Indonesien, Thailand und auch Vietnam sein. 

 

Ein deutscher Messechef hat während der Spitze von Covid, als sämtliche Messen und Events verboten waren, die Aussage gemacht, dass sich nach dem Ende der Pandemie kein Mensch mehr für «digitale Messen» interessieren würde. Wie beurteilen Sie die Aussage aus heutiger Sicht?

Sehr ähnlich. Unser Kerngeschäft ist nun mal die organisatorische Zusammenführung von Angebot und Nachfrage in physischer Präsenz. Von dem panikartigen Versuch, während der Coronapandemie digitale Messeformate zu entwickeln, haben wir uns Gott sei Dank nicht infizieren lassen und damit unfassbar viel Geld gespart.

 

Digitalität wird immer eine wichtige Unterstützung von Veranstaltungen sein, sie wird die eigentlichen Messen aber nicht ersetzen können. Jede bereits bestehende spezifische digitale Branchenlösung ist schon heute besser, als wir sie entwickeln könnten. Also bleiben wir doch am besten bei dem, was wir seit rund tausend Jahren am besten können.

 

Interview: Urs Seiler

 

TAKE OUTS


Deutliches Besucherplus: SHK+E ESSEN zieht starke Schlussbilanz


Mit einem erweiterten Angebot hat die SHK+E ESSEN eindrucksvoll die Messesaison für die Branche eingeläutet: Rund 30.000 Fachbesucher kamen vom 19. bis 22. März 2024 in die Messe Essen, um sich über Neuheiten in den Bereichen Sanitär, Heizung, Klima und Elektro zu informieren. Im Mittelpunkt des Angebots der mehr als 330 Aussteller aus 16 Ländern standen unter anderem Wärmepumpen, hybride Wärmepumpensysteme und weitere heiztechnische Lösungen sowie Produkte für eine effiziente Montage.



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